Pop-Musik, Wahrheit und Theater: Interview mit Christian Papke
von Jan Pressler
 
Fernsehen kommt heute in jedes Haus. Warum soll man sich Mühe machen, und ins Theater gehen?
 
Und darauf willst du eine knackige Antwort? Lacht. Uns hält ein Kitt zusammen, der erst einmal banal erscheint: Dos and No-gos, typische Handlungs- und Problemlösungs-Schablonen, erlaubte und nicht erlaubte Gefühle. Zumeist merken wir sie gar nicht und halten sie für selbstverständlich. Wir wissen einfach, wie unser Gegenüber funktioniert und was ich selbst zu tun habe. Richtig bewusst wird dir dieser Kitt erst, wenn du Kulturen begegnest, wo er krass anders funktioniert. Wo Dinge, die für dich selbstverständlich sind, völlig anders laufen oder gar nicht vorhanden sind. An dieser Stelle beginnt für mich „Kultur“. Das ist etwas, was ich in Brasilien einfach ganz nah erfahren konnte.
 
Das was wir landläufig unter Kultur verstehen, die komplizierteren Kultur-Produkte wie Literatur, Theater aber auch Fernsehen wiederholen zu einem ganz erheblichen Teil diese Schablonen. Und genau hier setzt ein heikler Mechanismus ein: durch die Wiederholung legitimieren sich irgendwie die Schablonen und was sie repräsentieren. Plötzlich stellt sich Wahrheit her. Das ist wie in der Sprache: du nennst etwas soundso mit deinen Freunden und plötzlich ist es selbstverständlich, wie ein Axiom. Die Kategorie ist in die Welt geworfen und ab da besteht sie einfach, sie findet Verwendung, Zweifel sind nicht mehr angebracht. Warum das so ist? Wer zulange hinterfragt, lernt langsam, vielleicht ist das nicht im Sinne des Überlebens. Zündet sich eine Zigarette an.
 
Das Spannende ist nun, dass diese Repräsentationen eine Auswirkung haben auf unser Zusammenleben. Da brauchen wir gar nicht bis zum „Bückling vor dem Kaiser“ zu gehen. Nimm einmal den „niedergesenkten Blick“ des Mädchens, wenn der Bursche sie anschaut. Er bedeutet etwas, er hat eine Wirkung. Er repräsentiert eine ganz bestimmte Form der Geschlechterbeziehung. Er wirkt sowohl als Zeichen als auch auf deine Gefühlswelt, das wissen wir spätestens seit dem großen Erfolg des Method Acting. Das wurde ja ausreichend psychologisch untersucht. Nun siehst du den „niedergesenkten Blick“ im Laufe deines Lebens in 500 Theaterstücken und sagen wir 5000 Fernseh-Erlebnissen. Du kommst gar nicht drauf, ihn infrage zu stellen. Du machst das einfach auch so. Irgendwann ist dein innerer Widerstand weg. Und dann hast du ein Stück von dir selbst aufgegeben. Dazu kommt, dass deine Umwelt ja auch ins Theater geht und jeden Tag ein paar Stunden fernschaut. Da musst du einfach drauf reagieren.
 
Genau das ist ja das Prinzip der Werbung.
 
Erinnerst du dich an diesen Film, ich glaube, es war „Marokko“, wo Marlene Dietrich diesen schönen Mann im Publikum findet, ich glaube, es war Gary Cooper, und ihm interessiert in die Augen schaut, und plötzlich schlägt er die Augen nieder? Was hat dieser Film für Wellen geschlagen! Plötzlich war die Hose für Frauen gesellschaftskonform! Aber tatsächlich ging es natürlich mehr als um die Hose. Es ging um eine neue Stellung der Frau. Hat der Film das ausgelöst oder hat er nur abgebildet, was sowieso schon als Tendenz spürbar war?
 
Es gibt die Theorie des Verstärkereffekts der Medien. Gilt die auch für das Theater?
 
Der Verstärkereffekt sagt ja, dass sich ein Medium nicht zulange gegen eine Tendenz innerhalb der Gesellschaft wehren kann, weil dem Medium sonst seine Kunden abhanden kommen. Ich finde, dass ist kein wirklich sauberes Argument, weil insbesondere ein Massenmedium, für das ja diese These entwickelt wurde, eine sehr große Gruppe anspricht, und damit sozusagen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner der Masse abzielt. Der Verstärkereffekt mag demokratiepolitisch relevant sein, sagt aber nichts wirklich über neue Tendenzen aus, weil die Masse vielleicht länger braucht, neue Tendenzen zu akzeptieren, als bestimmte Gruppen, die eine Veränderung früher wahrnehmen und für notwendig erachten.
 
Für mich ist gerade das der Grund, ins Theater zu gehen: aufgrund der Produktionsstrukturen kann das Theater auch eine kleinere, vielleicht innovativere Zielgruppe ansprechen als beispielsweise ein privater, werbefinanzierter TV-Sender. Das ist eigentlich das, was ich vom Theater erwarte: die Konfrontation mit neuen Ideen, alternativen Handlungs- und Problemlösungs-Mustern und mit Gefühlen, die ich vielleicht bisher an mir gar nicht zugelassen habe, weil sie tabu sind oder waren. Natürlich findest du diese Konfrontation auch in Literatur oder in der alternativen Pop-Musik, aber jedes Genre hat auch seinen Vorteil in der Darstellung. Und Theater ist nun einmal nicht zu schlagen in der Darstellung von zwischenmenschlichen Verhaltensweisen. Stimme, Bewegung und Körperlichkeit kannst du noch besser nur im Film abbilden, wo du mehrere Schüsse frei hast sozusagen. Aber bis sich etwas im Film durchsetzt, der nochmals ein Vielfaches mehr kostet als Theater, ist eine Tendenz schon nicht mehr neu – es sei denn, sie wird provokant zur Markenbildung eingesetzt.
 
Wer zahlt, bekommt also jene Welt, die er sehen will?
 
Aber natürlich! Entweder politischer Art – weil die Subvention ja auch eine Zahlung ist, oder weil das Theater mit einer bestimmten Zielgruppe fest rechnen kann und sie nicht verprellen will. Nur: die Zeit des funktionalen Theaters sollte eigentlich vorbei sein, wir haben Grotowski gehabt, mit seinem Theaterlaboratorium und das Absurde Theater und natürlich all diese frühen Versuche, seit Gerhard Hauptmann vielleicht, darzustellen, wie denn der neue Mensch denn aussehen könnte, was er denken und wie er handeln könnte. Eigentlich beginnt die Abwendung vor dieser Anbiederung auf dramatischer Ebene bereits in der Romanik. Das innovative Theater, wenn du es mal so nennen willst, ich will mich hier wirklich nicht auf Gattungsbezeichnungen festlegen, setzt einen innerlich freien, selbstbestimmten und interessierten Zuschauer voraus, der eine grundlegende Bildung bereits verinnerlicht hat, dem es also nicht mehr an Grundlegendem fehlt, und der Lust hat, sich einmal Alternativen vorführen zu lassen, um sie daraufhin abzuklopfen, ob sie sich für ihn selber eignen. Eigentlich brauchst du nicht einmal Bildung, Boal ist in Brasilien zu den ganz Armen gegangen, die sicherlich keine Bildung hatten und hat mit ihnen gemeinsam alternative Handlungsmuster im Theaterspiel erarbeitet. Das ist vielleicht ein anderes Niveau, aber das Grundprinzip gilt auch für künstlerisch anspruchsvolles Theater.
 
Noch einmal: es geht nicht darum, die Dekonstruktion bestimmter überkommener Handlungsweisen wieder und wieder zu feiern, das ist auf die Dauer ja langweilig. Es geht darum, Bilder zu zeigen, welche Türen zu sinnvollen Alternativen öffnen. Dazu brauchst du allerdings eine Finanzierung von Theater, die das Laboratorium erlaubt. Ein Hoch auf alle Verantwortlichen, die dem Theater Innovativität und Experiment erlauben! Vielfach sieht es doch so aus, das Produktionen zwar subventioniert sind und eigentlich sich auf die Suche begeben könnten, im letzten Augenblick aber doch einen Rückzieher machen und ein Tribut an die Gewohnheit des Publikums, eben weil Subventionen ja auch wieder rechenschaftspflichtig sind.
 
In der Pop-Musik findest du Innovativität zumeist in ganz einfachen unkommerziellen Indie-Produktionen und ein paar Jahre später gesammelt in großen aufwendigen Major-Produktionen wieder.
 
Natürlich, wenn du mit Freunden jamst oder dir deinen Song mit Logic am Apple zusammenklickst, kannst du ein ganz anderes Akzeptanz-Risiko eingehen, als wenn du dein Haus beleihst, um in Produktion und Werbung investieren zu können. Für das Theater ist das aber kein Modell. Du brauchst einfach ein Minimum an Zeit und Sicherheit, überhaupt nachdenken zu können, sonst zerfällt dir die Gruppe, bevor du angefangen hast. Theater ist nun einmal ein Gemeinschaftsprozess, das macht sein Output ja auch so dicht. Innovative Indie-Produktionen werden zumeist nur von ganz wenigen Personen gestemmt. Mach aber einmal ein Theaterstück zu zweit, dritt oder mit einer Handvoll Personen! Ohne ein Mindestbudget ist innovatives Theater nicht zu machen, Hut ab daher noch einmal vor jenen, die das wissen und das Risiko mittragen.
 
Die Romantiker haben sich entschieden, ihre Stücke einfach nicht aufzuführen und Lesedramen zu schreiben. Ist nicht der ideale Weg für innovatives Theater?
 
Natürlich kannst du nur für die Schublade schreiben oder für ein ganz kleines Lese-Publikum. Oder du kannst Kompromisse eingehen und Innovatives in konventionelles Seidenpapier verpacken. Nestroy ist so ein Kandidat, selbst bei Goethe kannst du Kompromisse herauslesen. Nimm den Tasso zum Beispiel, wo du beim besten Willen den Standpunkt des Autors nicht herauslesen kannst. Die Personen argumentieren geschlossen, jeder hat Recht, eine höhere Moral gibt es nicht. Für Nestroy war das ein Muss, er hatte eine ganze Theatertruppe zu ernähren. Auch Goethe war in dieser Zeit nicht ganz so unabhängig, wie man heute denkt. Nur: wie willst du gerade das Theatrale in ein Drama schreiben? Über die Regieanweisung: Mädchen senkt Blick nicht, sondern schaut ihm schnurgerade in die Augen? Es ist doch gerade die Änderung in der Aufführungskonvention, welche die Theater-spezifische Innovation hervorbringt.
 
Warum ist Innovativität so wichtig? Warum ist es wichtig, Handlungsmuster und Konventionen infrage zu stellen und Alternativen aufzuzeigen? Geht es um Protest purer Dekonstruktion willen? Kaiser gibt es nicht mehr und Geschlechterbeziehungen – soll doch jeder nach seiner Fasson glücklich werden!
 
Diese Frage von dir? Lacht. Richtig, es soll jeder nach seiner Fasson glücklich werden! Nur dazu musst du ja auch erst einmal die Möglichkeit haben! Es ist ja nicht so, dass wir nur irgendwelche Handlungsschema oder –muster benötigen würden, sie müssen ja auch im Alltag verwendbar sein. Menschen sind keine Maschinen, möchte ich sagen, die nur irgendein Betriebssystem benötigen, das rudimentär Festplatte und Bildschirm ansprechen kann. Sie haben ja auch ein Bedürfnis nach Authentizität, nach Wahrheit, nach Identität, nach Glaubwürdigkeit, nach Hoffnung, nach Zukunft. Nimm das klassische Beispiel mit Marlene Dietrich: nicht zu Boden schauen, das haben vielleicht auf vorher schon besonders selbstbewusste und kesse Damen gemacht. Aber jetzt ziehen die Männer in den Krieg und die Frauen dürfen den Alltag besorgen. Sie werden Baggerfahrer und Manager und checken das gesamte zivile Leben. Dann kommt das Häuflein Männer zurück, das vom Krieg noch übrig ist und plötzlich heißt es: Frauen zurück an den Herd, zu etwas anderem seit ihr nicht zu gebrauchen! Lächerlich! Also müssen die alten Zöpfe ab, neue Frisuren her!
 
Das aktuelle Stück ist „Veliki Fajront“ von Emilja Andrejevic. Siehst du hier auch innovative Ansätze?
 
„Veliki Fajront“ hat oberflächlich gesehen erst einmal ein mehr oder minder komisches TV-Show-Geschehen wie andere moderne Stücke auch. Dramaturgisch gesehen stellt Emilja aber die Show-Teilnehmer in Konflikt mit ihrer eigenen Integrität. Vielleicht ist es das, was TV-Shows überhaupt spannend macht: Wie weit bist du bereit, dich selbst zu verleugnen?
 
Der erste Preis dieser Show ist die EU-Staatsbürgerschaft. Ich glaube nicht, dass wir darüber zu reden brauchen, wie absurd dieser Preis ist! Es geht auch nicht darum, wie man vielleicht vermuten könnte, dass die EU-Staatsbürgerschaft sozusagen die Tür zum Schlaraffenland öffnet und die Protagonisten angesichts der realen Verhältnisse in EU-Staaten enttäuscht würden. Die EU wird vielmehr zur Parabel für die neue Welt, die mit der Globalisierung und dem Siegeszug des Kapitals angetreten ist. Die Charaktere sind allesamt gut gebildet und weltoffen. Sie nutzen das Internet, sind gut informiert, modern und offen für alles Neue. Aber die neue Welt, oder was sie dafür halten, zwingt sie zu Verrat, was sie eigentlich nicht möchten, zur Aufgabe ihrer Integrität. Und hier beginnt der Gewissenskonflikt, der in dem Stück fünfmal unter anderen Vorzeichen vorgeführt wird. „Veliki Fajront“ ist ja der Gewinner des Österreichischen Dramenwettbewerbs 2007 für serbische Autoren. Der Wettbewerb stand unter dem Titel „Über Grenzen sprechen“ und unter dem Untertitel „Das Lebensgefühl in Zeiten des Wandels“. Die Jury, deren Entscheidung maßgeblich auf die internationalen Mitglieder zurückzuführen ist, hat nun gerade diesen Gewissenskonflikt als ein Lebensgefühl befunden, das die Grenzen überschreitet und genauso in Deutschland oder Österreich zuhause ist. Die Charaktere sind moderne Serben, ihre Tragik jedoch international. Was in „Veliki Fajront“, dem „Großen Feierabend“ aufmacht, angefangen vom Umgang mit Langeweile, vom Umgang miteinander, von Ängsten und Zukunftswünschen und wie die Charaktere entscheiden, ist fern üblicher theatraler Stereotypen. Es ist glaubwürdig, echt, so ist das Leben heute, was sollen wir uns etwas anderes vormachen. Ich freue mich unglaublich darüber, mit einem hochkarätigen Team, ausgezeichneten und sehr, sehr begabten Schauspielern, die sich mit ungeheurem Mut und Enthusiasmus darauf einlassen, diesen Charakteren Authentizität einzuflößen, Emiljas Stück inszenieren zu können. Ich würde mir sehr wünschen, dass wir eine spannende Inszenierung daraus werden machen können!